Christen mit Aluhut?

Impulse

Ende August 2020 verfolge ich im Finnland-Urlaub auf dem britischen Nachrichtensender BBC, wie Anti-Corona-Demonstranten in Berlin mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen die Treppe des Reichstagsgebäudes in Berlin stürmen.

Die Corona-Krise lässt in Deutschland in dramatischer Weise alte (Nazi-)Geister wieder aufstehen, und die ganze Welt schaut verwundert zu, 30 Jahre nach dem Gnadenbeweis der deutschen Wiedervereinigung.

Die tausendfach geteilten Bilder in den sozialen Netzwerken zeigen Demonstranten, die auf ihren Plakaten wahlweise Bill Gates, eine globale „Elite“, 5G-Sendemasten oder auch die Juden für die derzeitigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens verantwortlich machen. Bevor sich diese Leute verschiedener weltanschaulicher Couleur auf der Straße trafen, kursierten ihre Verschwörungsmythen in den sich selbst verstärkenden Echo-Kammern bei YouTube, Facebook, Twitter, Telegram & Co.

Waren Verschwörungstheorien lange Zeit eher eine Randerscheinung in der deutschen Gesellschaft, so haben sie es im Corona-Jahr 2020 in den Medien und oft auch in christlichen Gemeinschaften zu ungeahnter Prominenz gebracht. Prof. Michael Butter von der Universität Tübingen definiert sie so: „Verschwörungstheorien behaupten, dass eine im Geheimen operierende Gruppe, nämlich die Verschwörer, aus niederen Beweggründen versucht, eine Institution, ein Land oder gar die ganze Welt zu kontrollieren oder zu zerstören.“1 Da diese Behauptungen sich nicht auf wissenschaftlich überprüfbare (also verifizierbare oder falsifizierbare) Fakten stützen, spricht man meist eher von „Verschwörungsmythen“. Die Anhänger dieser Mythen sehen sich als Teil einer kleinen Gruppe, die mehr weiß als der Rest der Bevölkerung (die so genannten „Schlafschafe“). Ihr Symbol ist der Aluhut, der sie vor dem Mainstream-Gedankengut schützen soll.

Besonders beachtete Verschwörungsmythen im 20. Jahrhundert rankten sich z.B. um die Ermordung von John F. Kennedy 1963 (War es wirklich nur ein Einzeltäter oder doch finstere Hintermänner?) und die Mondlandung 1969 (Wurde sie in Wahrheit in einem Filmstudio gedreht?).2

In der Corona-Krise kamen neue Verschwörungsmythen hinzu:3 Microsoft-Gründer Bill Gates (der „Verschwörer“) wolle aus Geldgier (sein „niederer Beweggrund“), dass sich jeder mit einem von ihm patentierten Impfstoff zwangsimpfen lasse. Dabei werde auch gleich ein Mikrochip injiziert, mit dem Gates die ganze Welt kontrollieren könne.

Die QAnon-Bewegung, benannt nach dem anonymen Online-Hetzer „Q“, behauptet hingegen, dass eine finstere globale Elite ihr kriminelles Unwesen treibe.4 Hollywoodschauspieler, Juden, Politiker und das Kinderhilfswerk UNICEF seien an einem internationalen Kinderhändlerring beteiligt, der Kinder entführe und deren Blut trinke. US-Präsident Donald Trump gehe gegen diese vor.

Unter den Demonstranten vor dem Berliner Reichstag Ende August befanden sich auch einige Anhänger von QAnon, die dann auch in Jubel ausbrachen, als fälschlicherweise verkündet wurde, Trump sei gerade in Berlin gelandet.

Viele der momentan virulenten Verschwörungsmythen sind antisemitisch. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e.V. veröffentlichte Anfang September eine Studie zu „Antisemitismus im Kontext der Covid-19-Pandemie“.5 Die Untersuchungen über den Zeitraum von Mitte März bis Mitte Juni zeichnen ein erschreckendes Bild: Von Beginn der Pandemie an war das Aufkommen antisemitischer Mythen unterschiedlicher Art zur Entstehung und Verbreitung des Covid-19-Virus, aber auch zu den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu beobachten, zunächst v.a. online, später auch auf der Straße. RIAS zitiert den Rapper und Buchautor Ben Salomo, er halte die Corona-Pandemie für einen „Brandbeschleuniger“ für Antisemitismus. RIAS verzeichnete im Untersuchungszeitraum insgesamt 123 Corona-Demonstrationen, bei denen es zu antisemitischen Äußerungen kam, die Dunkelziffer an nicht erfassten Vorfällen ist sicherlich noch um einiges höher. Am häufigsten waren dies Holocaust-relativierende Vergleiche, z.B. wenn Demonstranten einen gelben „Judenstern“ mit der Inschrift „ungeimpft“ trugen, was einerseits die Schoa verharmlost, andererseits Täter- und Opferrollen vertauscht.

Am zweithäufigsten kamen antisemitische Verschwörungsmythen vor, die vielfach althergebrachte antisemitische Stereotype verwendeten. Diese bezeichneten z.B. die „Zionisten“, „Rothschild“ oder den jüdischen Investor und Philanthropen George Soros als Schuldige an der Corona-Pandemie.

Diese historischen antisemitischen Stereotype scheinen bei zahlreichen Corona-Verschwörungsmythen durch: Wenn u.a. Xavier Naidoo mit der QAnon-Bewegung behauptet, die finstere globale Elite trinke das Blut von Kindern, ruft dies natürlich Assoziationen zu der bereits im Mittelalter verbreiteten Ritualmordlegende hervor, nach der Juden vor dem Pessachfest christliche Kinder töteten, um dann deren Blut für die Herstellung von Matzen zu verwenden.

Ob nun während der Pest, dem Nationalsozialismus, 9/11 oder der Corona-Pandemie: Verschwörungsmythen florieren immer in Krisenzeiten, wenn Menschen nach Erklärungen für Dinge suchen, die ihnen Angst machen.

Avner Boskey veröffentlichte am Anfang der Corona-Zeit einen aufschlussreichen Aufsatz, in dem er darstellt, wie Verschwörungstheorien einen Sündenbock in einer schwierigen Situation bieten können. Ganz oft in der Geschichte waren das eben Juden.

Wenn man nach einer Begründung für diese oder jene „Theorie“ fragt, kommt entweder die Antwort: „Es gibt natürlich keine Beweise, weil sie ja verschleiert werden“, oder: „Es gibt ganz viele Beweise“ – der Zusammenhang ist dann aber meist äußerst unlogisch.6

Wie gehen wir als Christen nun mit den großen Fragen der Corona-Pandemie und den Angeboten der Verschwörungsmythen um? Schaut man sich in diesen Tagen in Kirchen und Gemeinden um, so begegnet einem eine starke Orientierungslosigkeit, die das Potenzial hat, Gemeinschaften und Familien zu spalten. Grob gesagt, reicht das Spektrum von verängstigten Christen, die sich wegen des Virus kaum aus dem Haus, geschweige denn in ihre Kirche oder Gemeinde trauen, bis hin zu den Corona-Leugnern, die auf Demos Jeschua-Fahnen schwenken, aus der Bibel zitieren und in den Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus die endzeitliche Christenverfolgung sehen.

Boskey schreibt, dass letztlich alles eine Frage des Glaubens ist. Denn für Christen geht es ja nun auch nicht nur um Logik. Wir brauchen also einen Geist der Unterscheidung. Es ist zum einen natürlich wichtig, und auch demokratisch, sowohl die offizielle Medienberichterstattung als auch Maßnahmen der Regierung kritisch zu hinterfragen. Zum anderen sind wir gut beraten, genau hinzuschauen, wenn jemand behauptet, mehr zu wissen als alle anderen und eine ganze Personengruppe, z.B. „die Politiker“, pauschal der Lüge und der Verschwörung gegen „das Volk“ bezichtigt. In jedem Fall sollte man sich bei mehreren seriösen Quellen entlang des politischen Spektrums informieren und auch das Gespräch mit reifen Vertrauenspersonen, bzw. auch geistlichen Leitern, suchen.

Nicht zuletzt gilt das Wort aus 2. Timotheus 1,7: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Als Christen sollten wir auf die Liebe und die Kraft Gottes vertrauen, sein Reich bauen und das Evangelium verkündigen. Eine große Portion Besonnenheit tut dabei ebenfalls ganz gut.

 

Text von Dr. Florian Kubsch

 

Links:

Offensiv News, Ausgabe November 2020 zum Download: www.tos.info/offensiv

Die Neunte Stunde Sendung zum Thema „Verschwörungstheorien“: https://youtu.be/HWSpsGxlfeY

 

Quellen:

1 Butter, Michael: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018, S. 21.

2 „Vorsicht, Verschwörung! Hexen, Illuminaten, finstere Eliten: Die Macht konspirativer Mythen“, in: ZEIT Geschichte 3/2020.

3 www.mdr.de/brisant/coronaverschwoerungstheorien-100.html

4 www.tagesspiegel.de/themen/reportage/die-gefaehrlichen-luegen-des-qanon-ein-verschwoerungsglaube-geht-um-die-welt/26160230.html

5 report-antisemitism.de/documents/2020-09-08_Rias-bund_Antisemitismus_im_Kontext_von_covid-19.pdf

6 davidstent.org/drinking-the-cup-of-poison/