Wir können uns manchmal nur schwer vorstellen, dass es in Deutschland geistliche Aufbrüche gegeben hat. Und doch war es so: Gott sei Dank!
Die Aufbrüche waren nicht nationenübergreifend, aber es gab sie auf regionaler Ebene, oft sogar mit einer starken Signalwirkung, leider aber allzu selten mit einem nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft. Wir haben zur Ermutigung im folgenden Text einige bemerkenswerte Bewegungen zusammengestellt. Gott ist ein Gott des Durchbruchs! Was damals geschah, kann heute ebenso wieder möglich sein.
Das 20. Jahrhundert startete mit einer außergewöhnlichen Heimsuchung Gottes. Der junge Prediger William J. Seymour (1870–1922), ein Sohn ehemaliger Sklaven, kam am 22. Februar 1906 nach Los Angeles und sammelte eine kleine Gruppe von Christen um sich. Seymour begann mit Gebets- und Heilungsversammlungen, die so stark von der Herrlichkeit Gottes erfüllt waren, dass sie von morgens um 10.00 Uhr oft bis Mitternacht, zum Teil sogar noch länger durchgeführt wurden. Die Veranstaltungen fanden drei Jahre statt. Aus der Azusa Street Erweckung wurde die Pfingstbewegung geboren, die zusammen mit der charismatischen Bewegung heute mehr als 600 Millionen Mitglieder zählt.
Die Pfingstbewegung gelangte Anfang des 20. Jahrhunderts auf unterschiedlichen Wegen nach Deutschland. Eine der entscheidenden Ereignisse war die Erweckung in Mühlheim an der Ruhr unter dem Zeltmissionar Jonathan Paul im Jahr 1905. Die Gemeinden der Stadt organisierten gemeinsam Gebetsveranstaltungen, die immer stärker zu Erweckungsversammlungen heranwuchsen. Der Heilige Geist bewegte sich so mächtig, dass Menschen öffentlich Buße taten und ihre Sünden bekannten. Bei den anschließenden Evangelisationen bekehrten sich 3.000 Menschen, ein geistlicher Durchbruch in der damaligen Zeit.
40 Jahre später erlebte das Deutschland der Nachkriegszeit geistliche Aufbrüche der anderen Art. Aus den Trümmern des zweiten Weltkriegs erstand geistliches Leben.
Nach der Bombardierung und völligen Zerstörung Darmstadts kam es durch Dr. Klara Schlink (später Mutter Basilea) und Erika Madauss (später Mutter Martyria) zu einer einschneidenden Wende. Sie hatten jahrelang um eine Erweckung für ihre Bibelkreise gebetet. Doch erst in Todesnähe wurden die jungen Menschen über ihre Lauheit und halbherziges Leben als Christ aufgeschreckt und erschüttert. Nach einem Erweckungserlebnis wussten sie, dass Gott sie bat, ihr Leben ihm ganz auszuliefern. 1947 gründeten sie in Mutter Basileas Elternhaus eine evangelische Schwesternkommunität, die heute als die Evangelische Marienschwesterschaft Darmstadt bekannt ist. Wer sie kennenlernen möchte, wird in den Gebetsgarten Kanaan eingeladen.
Durch ihren geisterfüllten Gebetsdienst und der besonderen Liebe zum jüdischen Volk ist ihr geistliches Leben in ihren internationalen Niederlassungen bis heute prägend.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges war ebenso auch die Zeit der Zeltmission. Evangelisten, wie der Baptist Herbert Sczepan (1927–2004) oder der evangelische Pastor Gerhard Bergmann (1914–1981), konnten jedes Zelt füllen. Billy Graham führte in den Jahren 1960 und 1963 in Verbindung mit der Evangelischen Allianz in mehreren deutschen Großstädten Massenevangelisationen durch, bei denen zehntausende Menschen zum Glauben kamen.
Harald C. „Hal“ Herman (1902–1999), ein ehemaliger prominenter Kameramann Hollywoods, kam nach dem Krieg als Missionar nach Berlin. Sein Evangelisationszelt auf dem Potsdamer Platz zog Massen von Menschen an. Durch zahlreiche Berichte von Zeichen und Wundern wurden Journalisten auf die Veranstaltungen aufmerksam und sahen mit eigenen Augen, wie Gott Schwerkranke augenblicklich heilte und wiederherstellte. In den Jahren zwischen 1952–1956 gaben ca. 24.000 Berliner ihr Leben Jesus und wurden mit ihm versöhnt.
Aus dieser Evangelisation entstanden Gottesdienste im alten kaiserlichen Privattheater am Nollendorfplatz, das heutige Metropol. Der 21-jährige Volkhard Spitzer wurde 1964 als Hauptpastor eingesetzt und später als „Jesus People“ Pastor bekannt. Nachdem die Gemeinde über ihre mangelnde Liebe zu den Menschen Buße tat, kamen junge Menschen, die den Drogen zum Opfer gefallen waren, in die Gottesdienste. Sie schienen regelrecht von einer unsichtbaren Hand gezogen zu werden. Die älteren Geschwister nahmen die Hippies, egal wie sie aussahen oder sich benahmen, mit ganzem Herzen in ihre Mitte auf. Schnell verbreitete sich diese Kunde von der außergewöhnlichen Liebe zu den ansonsten ausgestoßenen Jugendlichen.
Wie ein Lauffeuer sprach sich die Botschaft herum: Jesus macht völlig frei! Das war der Start der Jesus People Bewegung in Deutschland. Innerhalb eines Jahres gab es 40 Kontaktstellen, die „One-Way-Teestuben“, in denen sich wöchentlich tausende junge Menschen versammelten. Zur gleichen Zeit entstanden in Deutschland innerkirchlich wie auch jenseits von Denominationen charismatische Gruppen, meistens ohne jeden Kontakt untereinander. Volkhard Spitzer gab der charismatischen Bewegung durch den ersten charismatischen Kongress 1979 in Berlin und 1981 durch die unter dem Thema „Versöhnung“ stehenden Berliner Bekenntnistage mit über 30.000 Besuchern im Olympia Stadion ein einheitliches Gesicht.
Auch wir, Jobst und Charlotte Bittner, sind von der „Jesus People“ Erweckung in Deutschland beeinflusst worden. Ich bekehrte mich als Teenager 1972 auf einer Evangelisation von Volkhard Spitzer in Lüdenscheid, die von ehemaligen Drogenabhängigen veranstaltet wurde. Charlotte lebte mit ihrer Familie in Berlin und besuchte die „Jesus People“ Gottesdienste am Nollendorfplatz, wo sie entscheidende Anregungen für ihren Glauben empfing. Wir kamen 1981 zum Studium nach Tübingen, wo ich bei dem Tübinger Theologen und Professor für Neues Testament und Antikes Judentum Martin Hengel (1926–2009) wichtige Impulse bekam und bei ihm meine theologische Magisterarbeit im Neuen Testament schrieb.
Es hat in den vergangenen Jahren wohl kaum ein geistlicher Aufbruch so viel von sich reden gemacht wie die charismatische Bewegung. In einer Reihe von Veröffentlichungen wird sie immer wieder als die am schnellsten wachsende Frömmigkeitsbewegung der Christenheit bezeichnet. Nach Deutschland kam die Bewegung durch Pfarrer Arnold Bittlinger, der den charismatischen Aufbruch in den USA durch Larry Christenson in Kalifornien kennenlernte. Er lud einen Kreis von 80 Personen aus Kirchen und Freikirchen ein, die als Multiplikatoren den charismatischen Aufbruch in die Kirchen und Freikirchen hineintragen konnten. Ein weiterer geistlicher Aufbruch in den 80er Jahren wird als „dritte Welle des Heiligen Geistes“ bezeichnet, die eng mit der Gemeindewachstumsbewegung und ihren führenden Vertretern Peter Wagner und John Wimber verbunden waren. Zu ihrem Erscheinungsbild gehörte das Phänomen neuer Gemeindegründungen. In den 80er Jahren verstärkte sich die Zahl unabhängiger Gemeinden und wuchs bis in die 90er Jahre auf weit mehr als 200 neu gegründete Einzelgemeinden an.
Im Dezember 1990 wurde die TOS Gemeinde Tübingen als eine unabhängige Freikirche gegründet. Es entstand ein apostolisches Missions- und Sozialwerk evangelikal-charismatischer Prägung, durch das in den kommenden Jahren in 10 Ländern Gemeinden, Waisenhäuser für Straßenkinder, Zentren für Drogenrehabilitation, die Marsch des Lebens Bewegung und vieles mehr entstanden ist. Das Kennzeichen der TOS Dienste ist bis heute der Wunsch, geistliche Aufbrüche und Erweckung hervorzubringen.
Das 21. Jahrhundert hat mit großen Erschütterungen begonnen. In Onlinekonferenzen schließen sich zehntausende Christen im Gebet zusammen, um Gott zu suchen. Erweckung ist möglich! Ganz anders als in vergangener Zeit, aber mit derselben Kraft! Sind wir bereit?
Text: Jobst Bittner mit Maria Roers, Jonathan Mall
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