Judenhass und Verbal - Antisemitismus 2.0

Impulse Jobst Bittner

Antisemitismus ist in Deutschland lauter und bösartiger geworden. Eine aktuelle Bestandsaufnahme gibt der in der letzten Woche ausgestrahlte ARD Beitrag „Die Story im Ersten. Der Antisemitismus-Report 2018“. Angriffe auf offener Straße, das Beschmieren von Synagogen, das Verbrennen von Israelfahnen, die öffentliche Prämierung von Hass-Rappern, der Überfall auf das jüdische Restaurant Schalom in Chemnitz Ende August oder judenfeindliche Anfeindungen, Mobbing und Pöbeleien in der Schule: Der Antisemitismus ist in Deutschland erschreckend weit verbreitet.

Eine Studie zu jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus - erstellt von dem Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Bundestags - belegt, dass Antisemitismus für Juden und Jüdinnen inzwischen  eine allgegenwärtige und schmerzhafte Erfahrung ist.(1) Nichtjüdische Menschen in Deutschland bekommen von solchen Erfahrungen nur selten etwas mit. Hier klafft die Wahrnehmung weit auseinander. 76 % der befragten Juden meinten, der Antisemitismus sei ein großes Problem und habe in den vergangenen fünf Jahren zugenommen. 77 % der nichtjüdischen Befragten meinten dagegen, der Antisemitismus sei in Deutschland kein relevantes Problem; nur 19 % schätzten ihn als weit verbreitet ein. 

Lassen wir uns auf das Thema wirklich ein? 
Antisemitismus ist ein fester Bestandteil des Alltags von Jüdinnen und Juden in Deutschland, aber ihre Erfahrungen werden vom Rest der Gesellschaft selten gehört und noch seltener verstanden. Es ist erstaunlich, wie wenig wir darüber wissen und bereit sind,  uns wirklich damit auseinanderzusetzen. Wer von Antisemitismuserfahrungen betroffen ist und darüber spricht, begegnet immer wieder Abwehr- und Ausgrenzungsmechanismen. Statt darüber nachzudenken, was solche Erfahrungen für den Betroffenen bedeuten, wird ihnen unterstellt,  den „Ernst der Lage“ zu übertreiben. 

Es ist erstaunlich, wie schwer es  Einzelnen - ob in Gesellschaft oder in der Kirche - fällt, sich wirklich auf dieses Thema einzulassen. Antisemitismus ist eine unbequeme Angelegenheit, die man schnell hinter sich lassen möchte. Das emotionale Erbe der Schoa produziert in der deutschen Seele das Bedürfnis, sich dieser Geschichte zu entledigen. Man wünscht sich, vom Holocaust freigesprochen zu werden und sich endgültig zu entlasten. Man will endlich einen Schlussstrich ziehen und darf es doch nicht. Die Beschäftigung mit dem Antisemitismus ist verkrampft, nicht sachlich,  einerseits verordnet, andererseits vermieden und abgelehnt - ein ständiges Hin und Her zwischen sich aufregen und verdrängen.(2)

Judenfeindliche Einstellungen sind in allen sozialen Schichten und politischen Gruppierungen der Bevölkerung tief verwurzelt. Vielen ist er nicht einmal bewusst. Er ist so tief in unseren Köpfen, in der Sprache, in Büchern und unserer Wahrnehmung der Geschichte verankert, dass wir ihn ständig reproduzieren. Er artikuliert sich nicht nur in Vorurteilen gegenüber Juden, sondern in konkreten Verhaltensweisen und Taten - von unbestimmten Aversionen und inneren Vorbehalten bis hin zu physischer und verbaler Gewalt. Wir sind allzu schnell dabei, uns selbst davon freizusprechen und ihn auf andere Trägergruppen auszulagern. Nahezu in jeder Familie findet man das, was man sekundären und israelbezogenen Antisemitismus nennt. Unter dem Banner der sogenannten Israelkritik können antisemitische Stereotype nun ganz offen geäußert werden. Wer wissen möchte, wie aktiv er ist,  sollte doch einfach mal aufmerksam ins Internet schauen. 

Judenhass im Internet
Vor einigen Wochen wurde an der Technischen Universität in Berlin die bisher größte Studie zu Antisemitismus im Internet vorgestellt. Vier Jahre lang hat ein Forscherteam um die Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel den Hass auf Juden im Netz untersucht. Mehr als 250.000 Einträge auf rund 66.000 Webseiten haben die Forscher dafür ausgewertet.(3)

Die Ergebnisse sind erschreckend. Dass der Antisemitismus in den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen hat, verwundert nicht. Vielmehr dagegen, dass klassische Judenfeindschaft und Judenhass in seiner schlimmsten Form inzwischen täglich ein entscheidender Bestandteil von tausenden Texten im Internet ist. Die Tabuschwelle für den „Verbal-Antisemitismus“, einem durch Worte ausgedrückten Judenhass, ist in den letzten zehn Jahren auf einen Tiefpunkt gesunken! 

Im Sommer 2014 hörte man auf anti-israelischen Demonstrationen in zahlreichen deutschen Städten anlässlich des Gaza-Konflikts antisemitische Parolen wie "Jude, Jude, feiges Schwein!" (Berlin) oder "Stoppt den Judenterror!" (Essen). Im Internet gab es tausende von Twitter- und Facebook-Kommentare wie "jüdische Zionisten-Nazis!". Die israelische Botschaft erhielt täglich hunderte von E-Mails, in denen der jüdische Staat als „übelster Unrat" und Juden wie Israelis gleichermaßen als "Kindermörder", "Verbrecher" und "teuflische Unholde" beschimpft wurden. Aufforderungen wie "Tötet alle Zionisten!" und Gewaltfantasien, wie beispielsweise "Irans Bombe auf den jüdischen Verbrecherstaat!" wurden im World Wide Web, insbesondere in den Sozialen Medien, die mittlerweile der wichtigste Umschlagplatz von judenfeindlichem Gedankengut im Internet sind, artikuliert und multipliziert.(4)

Zu den beunruhigenden Funden der Studie gehört, dass sich die Sprache des Judenhasses heute im Netz und die Verleumdung damals frappierend ähneln. Antisemitische Klischees wie „Fremde“, „Verschwörer“, „Wucherer“, „Landräuber“ oder „Kinder- und Christusmörder“ sind durch die Jahrhunderte weitergereicht worden und erscheinen heute wieder in gleicher Weise. Es zeigt sich, dass aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust zum Trotz, immer noch die über Jahrhunderte tradierten judenfeindlichen Sprach- und Argumentationsmuster reproduziert und weitergegeben werden.

In Internetforen wird anonym verflucht, geschimpft und gehetzt, ohne dass es Folgen hat und oft reicht ein Klick, um von der Diskussions- zur Hassseite zu springen. Die schiere Masse des Materials macht den Gedanken an Abhilfe von vornherein utopisch. 

Hunderte Holocaustgedenkstätten reichen nicht aus

Offenbar reichten hunderte Holocaustgedenkstätten nicht aus, um uns durch pädagogische Bemühungen zu verändern, weil es um etwas anderes geht als um unsere Geschichte und Erinnerungskultur. Anscheinend haben wir es trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust noch immer  nicht geschafft, die jahrhundertelang tradierten judenfeindlichen Sprach- und Argumentationsmuster aus unseren Herzen und Köpfen herauszubekommen. Sie sind Teil unseres beinahe 2000 Jahre alten abendländischen Gedanken- und Glaubenssystems, in dem Juden für das „ultimativ Andere und prinzipiell Schlechte“ gehalten werden.(5)

Der Sprache kommt bei der Formulierung und Weitergabe judenfeindlicher Gedanken und Gefühle eine entscheidende Rolle zu. Über die Sprache werden antisemitische Vorstellungen seit Jahrhunderten reproduziert und von Generation zu Generation weitergegeben. 

Der Verbal-Antisemitismus grenzt Juden aus  (Juden als „Fremde“, „Nicht-Deutsche“- modern: „Israelis“), belegt sie mit einem Stereotyp (Juden als „gierig, rachsüchtig, zersetzend, blutrünstig, amoralisch“) und wertet sie generell ab. Diese drei Grundlinien judenfeindlicher Sprache haben eine lange und leidvolle Geschichte und sind nahezu unverändert erhalten geblieben. Verbal-Antisemitismus ist keinesfalls ein Randgruppen- oder Nischenphänomen: Im Netz findet man sie in normalen, alltäglichen Chats, Kommentarbereichen und Foren. Wie etwa die Frage: "Wieso sind Juden immer so böse?" oder: "Juden machen nur STRESS und besetzen ein Land das denen nicht gehört und töten Frauen und Kinder [...] das sind Juden ..."(6)

Verbal-Antisemitismus ist die Sprache der Judenfeindschaft und des Judenhasses, ob im Internet oder auf dem Schulhof, am Arbeitsplatz oder auf der Straße. Und, so traurig es ist, er ist keine Erfindung unserer Zeit! 

Verbal-Antisemitismus in der frühen Kirche

Am Anfang stand das Wort – das antisemitische, judenfeindliche und hasserfüllte Wort.

Christen aus Kirchen und Gemeinden haben eine historische Verantwortung für die Verbreitung eines beinahe 2000 Jahre alten „Verbal-Antisemitismus“, der immer wieder in Entrechtung, Entwürdigung, brennende Synagogen, Massemord und Pogrome mündete. Wir können als Christen eigentlich nur glaubwürdig sein, wenn wir bereit sind, die Grausamkeiten anzuschauen, die im Laufe der Kirchengeschichte im Namen Christi an Juden begangenen wurden. 

Die Kirche wendete sich in ihren Anfängen von ihren jüdischen Wurzeln ab und wurde zur Feindin jüdischen Lebens. Es begann mit dem judenfeindlichen Wort, dem „Verbal-Antisemitismus“ der frühen Kirche. Die griechisch-hellenistischen Kirchenväter waren besonders einflussreiche und von den Gläubigen verehrte Lehrer und die geistlichen Führer der damaligen Zeit. Sie legten die Grundlage für einen 2000 - jährigen Judenhass, durch den der Same judenfeindlichen Denkens in unser  Gedanken- und Glaubenssystem eingepflanzt wurde. Dieser Same ist bis heute in unseren Köpfen und Herzen erhalten geblieben. Wussten Sie, dass der gelbe Stern, der die Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ausgrenzte und als minderwertige Rasse kennzeichnete, von Christen im Mittelalter erfunden wurde? Juden wurden von der Kirche zu „Giftmischern, Ritualmördern, Unterdrückern und Handlanger Satans“ gemacht. Die Christen sind verantwortlich dafür, dass Juden im Laufe der Geschichte Schritt für Schritt ihrer menschlichen Züge beraubt wurden. Der Begriff „Jude“ wurde zum Fluch und Schimpfwort. 

Der Kirchenvater Chrysostomos (ca. 349 -407 n.Chr.) gilt als größter Prediger der griechischen Kirche. Doch Chrysostomos wurde auch zu einem der Weichensteller des christlichen Antijudaismus. In seinen vielgelesenen „Acht Reden gegen die Juden“, die er noch als Priester in Antiochien verfasste, schrieb er: „Wie können Christen es wagen, auch nur den mindesten Umgang mit Juden zu haben, jenen elendesten aller Menschen. Menschen, die lüstern sind, habsüchtig, perfide Banditen. Sind sie etwa keine unverbesserlichen Mörder, Zerstörer? (...)Ja, sie sind wilder als die wilden Tiere, da sie ihre Nachkommen töten und dem Teufel weihen. (...) Die jüdische Synagoge ist schlimmer als ein Bordell (…), sie ist ein Tempel von Dämonen, geweiht zu kultischen Gottesdiensten (…).“(7)

Bernhard von Clairvaux (ca. 1090 -1153) war ein mittelalterlicher Abt und Mystiker, einer der bedeutendsten Zisterziensermönche. Er schrieb: „Die Juden sind Menschen, besessen von einem bösen Geist. Sie sind gewohnheitsmäßige Mörder und Zerstörer.“ Clairvaux war der erste christliche Prediger, der das Wort „Gottesmörder“ auf die jüdische Nation anwandte. (8)

Martin Luther schrieb in seinem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543): „Was sollen wir Christen denn nun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden tun? Ich will euch meinen treuen Rat geben: 1. Verbrennt ihre Synagogen und Schulen, und was nicht brennen will, begrabt mit Erde, so dass kein Stein mit Trümmern übrig bleibt. 2. Brecht ihre Häuser auf und zerstört sie. 3. Nehmt alle ihre Gebetsbücher und Talmude fort, in denen nichts als Gottlosigkeit, Lügen, Flüche und Schwüre sind.“(9) In seiner letzten Predigt vor seinem Tod forderte er mit allem Nachdruck, alle Juden aus Deutschland zu vertreiben. Jahrhunderte später wurde Luthers antisemitische Propaganda im Dritten Reich wörtlich zitiert. Hitler brauchte nur bei den Kirchenvätern nachzuschauen, um eine Rechtfertigung für den größten Völkermord aller Zeiten zu bekommen. 

Als man den wohl schlimmsten Judenhetzer des Dritten Reiches, Julius Streicher, beim Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg vernahm, sagte er: „Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dies Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen würde. In dem Buch „Die Juden und ihre Lügen“ schreibt Dr. Martin Luther, die Juden seien ein Schlangengezüchte, man solle ihre Synagogen niederbrennen, man solle sie vernichten ... Genau das haben wir getan!“

Es gibt niemanden, der Antisemitismus und Judenhass so gefördert und vorangetrieben hat wie die Kirche. Massenmord und Pogrome fangen immer mit „Verbal-Antisemitismus“ an, und so war es leider auch in den Anfängen der Kirche. 

  • 7 Millionen Juden wurden vor dem Holocaust getötet.
  • 6 Millionen Juden sind dem Holocaust zum Opfer gefallen.

Das bedeutet,  insgesamt wurden 13 Millionen Juden durch die Grundlage christlicher Lehre vernichtet. 

Es gibt keine andere Form des Hasses, der gleich wie der Antisemitismus das Potential hat, 2000 Jahre zu überdauern und nach 13 Millionen Toten immer noch in unseren Herzen und Köpfen zu leben. Wer hätte vermutet, dass der Judenhass  im 21. Jahrhundert, trotz Ratio und  Vernunft,  wieder unvermindert stark an die Oberfläche tritt. Wer sich ehrlich mit Antisemitismus auseinandersetzt, darf nicht wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir können und dürfen uns Gleichgültigkeit und Passivität nicht mehr leisten. Der Antisemitismus ist weltweit im 21. Jahrhundert lebendig – auch, weil er immer noch in Christen lebendig ist. 

Was können wir tun? 

Antisemitismus ist ein unbequemes Thema. Wir brauchen ein radikales Umdenken, die Bereitschaft zur kritischen Selbstwahrnehmung sowie eine langfristige Antisemitismusprävention. Jeder dieser drei Punkte beschreibt die Grundlage des Marsch des Lebens.

  1. Wir thematisieren die Nachwirkungen der Vergangenheit und Familiengeschichte. 
  2. Wir sprechen über persönlichen Erinnerungen, die mit Schuld und Scham verbunden sind.
  3. Wir fördern jüdisch-christliche Begegnungen.
  4. Wir rufen auf zu einem aktiven Engagement gegen Judenhass und Antisemitismus.

Deswegen führen wir „Decke des Schweigens“ Seminare durch und ermutigen dazu, in jeder Stadt und in jedem Land rund um „Jom haSchoa“ einen Marsch des Lebens durchzuführen. 

 


1 Bertelsmann-Stiftung: Deutschland und Israel heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart? Gütersloh 2015, S. 38f.  https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_LW_Deutschland_und_Israel_heute_2015.pdf

2 So Marina Chernivsky im Interview vom 24.11.2017 mit Toraf Staud, Die Schwelle des Sagbaren verschiebt sich. In: Webpage der Bundeszentral für politische Bildung, www.bpb.de

3 Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel: Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses. Berlin 2018, www.linguistik.tu-berlin.de/fileadmin/fg72/Antisemitismus_2-0_Lang.pdf

4 Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel: Aktueller Antisemitismus. In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 7.09.2015. www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/211516/aktueller-antisemitismus

5 So Paul Ingendaay, Antisemitismus Studie: Es wird schlimmer Tag für Tag in Frankfurter Allgemeine, Debatten vom 19.07. 2018. www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten

6 Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel: Aktueller Antisemitismus. In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 7.09.2015. www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/211516/aktueller-antisemitismus

7 Dr. Michael Brown: Unsere Hände sind mit Blut befleckt. Die tragische Geschichte der „Christen“ und Juden, Trostberg 2016, 2. Auflage. Seite 34.

8 Malcolm Hay:Thy Brothers Blood. The Roots of christian Anti-Semitism, New York City 1975. Seite 30.

9 Dr. Michael Brown: Unsere Hände sind mit Blut befleckt. Die tragische Geschichte der „Christen“ und Juden, Trostberg 2016, 2. Auflage. Seite 38ff.

 

Ansprache von Jobst Bittner in Erfurt am 9. November 2018 - 80 Jahre Reichsprogromnacht.